
30 Jun 2015
„Führung ist: das Gespür zu haben, wie ich andere am besten einbinde“
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Von Sant’ Anselmo, dem Sitz der Hochschule des Benediktinerordens, hat man einen wunderbaren Blick auf Rom. Eine Aussicht, die der Abtprimas der Benediktiner, Notker Wolf, jeden Tag aus seinem Arbeitszimmer genießen kann. Wenn er denn Zeit hat. Der Arbeitstag des Mittsiebzigers sieht aus wie der eines Topmanagers. 18 Stunden sind die Regel. Als oberster Repräsentant des Ordens ist er für alles verantwortlich: angefangen von der geistigen Führung über die Sicherung der finanziellen Zukunft bis hin zur Umsetzung notwendiger Bausanierungen. Gelegentlich frönt er seiner Leidenschaft, der Rockmusik. Ein Gespräch über die Freiheit, die Relevanz der Kirche und über die Risiken und Nebenwirkungen der Digitalisierung.
Mit Abtprimas Notker Wolf sprach Birgit Homburger.
positionen: Abtprimas Wolf, Sie stehen als Abtprimas an der Spitze des Benediktinerordens und sind Sprecher von 7.500 Mönchen und 16.500 Nonnen und Schwestern.
Abtprimas Wolf (lachend): Ich habe es ertragen seit 15 Jahren.
positionen: Daneben engagieren Sie sich in den verschiedensten Projekten, haben eine Vielzahl von Büchern veröffentlicht, sind ein gefragter Vortragsredner und spielen regelmäßig Rockmusik mit Ihrer Band. Was gibt Ihnen die Kraft, dieses Pensum zu bewältigen?
Abtprimas Wolf: Die Freude. Ich habe viel Freude daran, mit Menschen zusammen zu sein. Mit ihnen zu diskutieren, zu musizieren und zu reden – und dabei auch gelegentlich ein „Bömbchen“ zu legen. Ganz wichtig ist meiner Meinung nach, das Leben nicht zu ernst zu nehmen. Jedenfalls nicht ernster, als es ohnehin schon ist. Ich habe einmal einen Prior gefragt, der 38 Jahre unter vier Äbten gedient hat, was ihn am Leben gehalten hat. Da hat er gesagt: „Oh, ich habe immer die anderen geärgert, nie mich selbst. Das ist einfach gesünder.“
positionen: Wie wichtig ist Humor?
Abtprimas Wolf: Humor ist für mich etwas ganz Entscheidendes. Er schafft Distanz zu den Dingen, gibt mir eine gewisse Gelassenheit. Denn ohne die kann ich auch nicht über bestimmte Dinge oder Situationen lachen. Gleichzeitig gibt er mir den Kontakt und die Nähe zur Wirklichkeit: Ich sehe zwar alles, empfinde aber nicht alles als so tragisch und weiß, dass die Welt weitergeht. Oder anders ausgedrückt: Bei uns liegen die ganzen Unentbehrlichen auf dem Friedhof und es geht trotzdem weiter.
positionen: Angesichts Ihrer vielen Aufgaben: Gibt es da überhaupt so etwas wie einen festen Tagesablauf?
Abtprimas Wolf: Meinen Tageslauf bezeichne ich gern als „Kauderwelsch“ – als ein munteres und oft spontan entstehendes Gemisch unterschiedlichster Tätigkeiten. Dennoch gibt es darin feste Punkte. Ich stehe jeden Morgen um Viertel vor sechs auf, mache meinen Frühsport, dusche abwechselnd heiß und kalt. Dann gehe ich zur ersten Chorgebetszeit des Tages. Diese Chorgebetszeiten geben mir Halt im Ganzen. Mir, der wie ein Boot auf den Wellen liegt und schwimmt, aber dennoch irgendwo verankert ist. In den Chorgebetszeiten tauche ich immer wieder ab auf den Grund meines Lebens. Von dort aus sehe ich die Dinge einfach ganz anders.
positionen: „Gönn dir Zeit. Es ist dein Leben.“ Das ist der Titel eines Buches von Ihnen. Gönnen Sie sich denn selbst auch Zeit?
Abtprimas Wolf: Ja, so wie gestern Nacht, wenn mein Arbeitstag gegen Mitternacht zu Ende geht. Ich war zwar hundemüde, doch hatte ich das Bedürfnis, mich hinzusetzen und in Vorbereitung auf meine Afrikareise noch ein halbes Kapitel in meinem Kisuaheli-Buch zu studieren. Das habe ich dann auch gemacht. Oder mich drängt es, noch schnell meine Kolumne für eine Wochenzeitung zu schreiben, weil sich in mir inzwischen so viele Gedanken aufgestaut haben. Der Tag muss eben einfach noch etwas anderes haben.
positionen: Die vielen Aufgaben lassen sich nicht immer allein lösen. Was bedeutet daher Führung für Sie und Ihre Arbeit?
Abtprimas Wolf: Ich bin Unternehmer, obwohl ich selbst nicht aus einer Unternehmerfamilie komme. Dabei bin ich nicht der Typ Unternehmer, der sich hinsetzt und überlegt: Was könnten wir tun? Sondern der, der sich herausfordern lässt, der seinen Job mit all den vielen Aufgaben packen will. Als ich zum Abtprimas gewählt wurde im Jahr 2000, habe ich sofort angekündigt, dass ich mir einen Rat einrichten würde, der mir dabei helfen sollte, alle meine Aufgaben zu bewältigen. Mein Vorgänger hat alles allein gemacht, das war früher so üblich hier: An der Spitze gab es nur den Chef und den Cellerar, also den Wirtschaftsverwalter des Klosters. Offiziell ist man als Abtprimas nur der Repräsentant, doch in Wahrheit muss man das Ganze zusammenhalten und fördern. Da gilt es auch, Finanzprobleme zu lösen und dafür zu sorgen, dass der Bau intakt bleibt. Beispielsweise haben wir zehn Jahre gebraucht, um die ganzen Dächer von Sant’Anselmo neu zu decken.
positionen: „Je besser es ohne dich geht, umso besser ist du als Manager.“ Dieses Zitat stammt von Ihnen. Ist das nicht ein Widerspruch: Schaffen es Menschen, die so denken und führen, überhaupt an die Spitze von Organisationen?
Abtprimas Wolf: Offenbar schon. Sonst wäre ich nicht gewählt und zweimal wiedergewählt worden. Es gibt eine wunderbare Anweisung im dritten Kapitel der Rede Benedikts: „Bei allen wichtigen Fragen rufe der Abt die ganze Gemeinschaft zusammen und berate sich mit ihnen.“ Meinen Sie, das wird gemacht? Obwohl die Anweisung so simpel ist, wird sie selten befolgt. Auch im Orden nur sehr schwer, weil alle Menschen Angst haben um ihre Macht. Meinen Sie, ein Abt käme auf die Idee, regelmäßig die Gemeinschaft zusammenzurufen, um mit allen darüber zu beraten, wie es mit der Gemeinschaft weitergehen soll? Deswegen ist eines meiner Grundanliegen, zu vermitteln, dass wir nur miteinander stark sind: Ein Abt ist so viel wie seine Mitbrüder, ohne meine Mitbrüder bin ich nichts. Doch dieses Miteinander muss man aushalten. Denn dabei kann man auf sehr viel Widerstand stoßen.
positionen: Wie gehen Sie damit um, wenn Sie auf diesen Widerstand stoßen?
Abtprimas Wolf: Hinhören. Auf keinen Fall verstecke ich mich dann hinter meiner Führungsrolle, reagiere empfindlich, sage „basta!“ und haue auf den Tisch. Ein Führungsverhalten, das in solchen Situationen oft zu beobachten und für mich unnötig ist. Wenn Widerspruch kommt, muss ich stramm zu meiner Position stehen, diese auch begründen und versuchen, die mir widersprechenden Personen von der Sache her zu gewinnen. Sicherlich gibt es immer wieder Menschen, die bewusst Opposition betreiben. Denen muss ich dann ihren Schneid abkaufen, indem ich sie herausfordere, sodass ihnen nichts anderes übrig bleibt, als mitzuziehen. Genau das ist Führung: das Gespür zu haben, wie ich andere am besten einbinde.
positionen: Wie wichtig ist dabei das Delegieren?
Abtprimas Wolf: Sehr wichtig. Aber man muss Delegieren als Sharing begreifen, indem man anderen Anteil an der Arbeit, an der Verantwortung gibt und sie miteinbezieht – ohne viele offizielle Vollmachten auszustellen. Dazu habe ich eine sehr schöne Erfahrung mit meinem Prior in Sankt Ottilien gemacht: Wir saßen mit mehreren zusammen und haben uns unterhalten. Zufällig hörte ich, wie mein Prior gegenüber seinem Gesprächspartner, einem externen Gast, sagte: „Wir haben hier einen sehr seltenen Glücksfall. Wir haben einen Abt, der uns mitregieren lässt.“
positionen: Nehmen Manager ihre Führungsverantwortung im Großen und Ganzen wahr oder sehen Sie Defizite?
Abtprimas Wolf: Ich kenne etliche Manager, die durchaus ihre Verantwortung wahrnehmen. Auch Topmanager sind darunter. Nur oft werden sie eitel, wenn sie erfolgreich sind. Und meinen dann, von ihnen hinge alles ab und ohne sie ginge gar nichts mehr. Schade, denn es sind oft sehr fähige Menschen. Doch wir brauchen nicht nur Manager, sondern Persönlichkeiten. So wie Unternehmer-Urgesteine wie Werner von Siemens oder Friedrich Krupp: Der eine hat die Altersversorgung in seinem Betrieb eingeführt, der andere hat in Essen Wohnraum für seine Arbeiter geschaffen. Beide waren auch irgendwo eitel, aber sie waren souverän. Heute denkt das Management nur noch an die Aktionäre seines Unternehmens. Die Vorstände stoßen selten bis gar nicht auf offene Kritik. Das traut sich doch keiner mehr, weil er um seine Karriere fürchtet.
positionen: Wie kann man – vor allem bei jungen Menschen – ethisches Verhalten stärken?
Abtprimas Wolf: Durch Vorbilder und durch eine ganzheitliche Erziehung. Deswegen spielen Eltern und Lehrer eine ganz wichtige Rolle in unserer Gesellschaft. Die kleinen Kinder ahmen ihre Eltern nach. Diese müssen deswegen Vorbilder sein. Und vermitteln, dass es auch im menschlichen Miteinander gewisse Gesetze gibt, die nicht zu starr sein sollten, aber doch eine bestimmte Rolle spielen. Werte muss ein Kind gelebt erfahren, später kann man diese immer noch, sagen wir, verfeinern durch Reflexion. Aber zuallererst müssen diese Werte gespürt werden. Beispielsweise muss ein Kind erfahren, was Gerechtigkeit heißt, um diesen Wert später als Erwachsener weiter zu leben. Eltern und Lehrer müssen die Kinder erziehen und motivieren, ihre Freiheit im Sinne von verantworteter Liberalität selbstständig wahrzunehmen. Genauso wollen Mitarbeiter in ihren Chefs Vorbilder sehen.
positionen: Wie und wo kommt da die Religion und die Institution Kirche ins Spiel?
Abtprimas Wolf: Indem wir den jungen Menschen eine Orientierung geben in ihrem Drang nach Freiheit. Dieser Drang muss kanalisiert werden, sonst wird er zur Willkür. In der Vergangenheit war es sicherlich ein Fehler, dass Kirche als ein Gesetzesgefüge oder gar Verbotsgefüge vermittelt wurde. Eigentlich sollten wir Kirche im Sinne der Worte vermitteln, die in Psalm 17 aufgeschrieben sind: dass Gott uns in die Weite hinausführt und uns eigentlich das Leben in seiner Fülle erst ermöglicht. Das in der heutigen Zeit jungen Leuten zu buchstabieren und zu übersetzen, ist natürlich nicht ganz einfach, aber wichtig.
positionen: Wie wichtig sind den Menschen heute noch Glaube und Religion?
Abtprimas Wolf: Die Leute wollen eine glaubwürdige „Transmission“ oder Vermittlung einer Hoffnung. Eine Hoffnung, dass es in unserer Welt noch anderes gibt. Und Gott ist diese Hoffnung zu einem Zeitpunkt, an dem alles wieder relativ düster aussieht. Das können wir nach diesem schrecklichen Flugzeugunglück, bei dem ein selbstmordsüchtiger Kopilot 149 Menschen absichtlich mit in den Tod gerissen hat, beobachten: Da gehen die Leute wieder in die Kirche, um Trost zu suchen. Meiner Meinung nach ist es der Kirche noch nicht wieder gelungen, die Relevanz unseres christlichen Glaubens zu vermitteln. Für die Muslime ist die Relevanz ihres Glaubens absolut sicher, fest vorgegeben und Teil ihrer Tradition. Wir Christen nehmen uns die Freiheit, den Glauben und die Kirche kritisch infrage zu stellen. Das soll meines Erachtens auch so sein. Aber ich muss dabei noch sehen, dass der Glaube der Anker meines Lebens ist. Und das gilt es zu vermitteln.
positionen: Wie erreichen Sie die Menschen? Vor allem die ganz junge Smartphone-Generation, die ständig online ist?
Abtprimas Wolf: Nur durch den persönlichen Kontakt. Mit dem Handy mache ich gar nichts, ich gehöre nicht zu der Facebook-Fraktion. Wenn ich mit den jungen Menschen zusammen bin, kann ich sie erreichen. Dabei ist mein Ziel, mit den schmunzelnden Augen Gottes auf die kleinen Schwächen des Menschen zu blicken. Und die Menschen zum selbstständigen Denken anzuregen. Für dieses buchstäbliche Weiterdenken gibt mir meine Religion die Freiheit.
positionen: Wie nutzt Ihr Orden oder die katholische Kirche die sozialen Medien?
Abtprimas Wolf: Über das Ob und Wie wird diskutiert. Der Papst nutzt sie ja, indem er twittert. Aber ich habe keine Zeit für diese Dinge. Es gibt mir auch nichts. Ich möchte mein Leben nicht öffentlich machen. Ein Stück Intimität zu bewahren, ist für mich sehr wichtig. Wir brauchen wieder Respekt vor dem anderen und vor uns selber.
positionen: Inwieweit verändert die Digitalisierung unsere Arbeitswelt, unser Sozial- verhalten und unser Wertesystem?
Abtprimas Wolf: Ich habe die Sorge, dass die Digitalisierung unser Leben zu einem großen Stress machen wird. Das weiß ich aus eigener Erfahrung. Hinter uns sehen Sie meine „Schaltzentrale“ mit Computer und Telefon. Ich kann Privates und Offizielles nicht trennen – auch zeitmäßig nicht. Wenn es mir manchmal zu viel wird, reiße ich mich zur Chorgebetszeit aus meinem Arbeitsfluss heraus. Das ist dann ein Pflock, den ich bewusst einschlage. Um Zeit für Gott und somit auch Zeit für mich zu haben. In der Familie können solche Pflöcke beispielsweise feste Essenszeiten sein, um dem Digitalen Einhalt zu gebieten.
positionen: 2016 werden Sie in den Ruhestand treten und dann nur noch Mitbruder sein. Was machen Sie dann?
Abtprimas Wolf: Dann gehe ich nach Sankt Ottilien zurück. Mein Traumjob wäre es, schwachen Schülern Nachhilfeunterricht an unserem Rhabanus-Maurus-Gymnasium zu geben. Die Frage ist nur, ob ich dafür dann nicht zu alt bin. Auf jeden Fall wäre das etwas, bei dem ich wieder aufleben würde. So oder so, ich bin mir sicher, mir wird nie langweilig. Und wenn doch, dann spiele ich von früh bis spät „Smoke on the Water“ – wie damals mit Deep Purple auf dem Open Air 2008 in Benediktbeuern. Aber jetzt muss ich erst einmal zum Beten und zum Mittagessen.
positionen: Abtprimas Wolf, wir danken Ihnen für das Gespräch.