Warum die Erschließung des neurodiversen Talentpools ein kluger Schachzug ist

23 Jul 2019

Warum die Erschließung des neurodiversen Talentpools ein kluger Schachzug ist

Kandidaten mit neurologischen Erkrankungen wie Autismus haben oft außergewöhnliche Fähigkeiten zur Problemlösung und andere großartige Eigenschaften, sagt Laura James.

Die Vielfalt am Arbeitsplatz wird viel diskutiert. Häufig bezieht sich dieser öffentliche Diskurs auf Geschlecht, Ethnizität und körperliche Behinderung. Es ist seltener, dass sich die Debatte auf Themen rund um die Neurodiversität konzentriert. Neurodivergente Personen können vor allem Organistionen, die abstrakte Probleme beziehungsweise Herausforderungen haben, neue Lösungswege aufzeigen.

Anders, nicht weniger

Neurodiversität bezieht sich auf die Art und Weise, wie unser Gehirn Informationen verarbeitet. Die australische Sozialwissenschaftlerin Judy Singer prägte den Begriff in ihrer Arbeit von 1998. Sie zeigte das Entstehen einer neuen Kategorie von Behinderungen auf, die bis dahin noch nicht genannt worden war.

Im Allgemeinen umfasst der Begriff Autismus, Aufmerksamkeitsstörungen, Legasthenie, Dyskalkulie, Dyspraxie und andere neurologische Erkrankungen. Befürworter der Neurodiversität, welches vor allem autistische Erwachsene sind, argumentieren, dass neurodivergente Menschen zwar unterschiedlich, aber nicht weniger Wert sind und das ihre Rechte das gleiche Gewicht haben sollten wie die so genannten neurotypischen Menschen.

Personalberater werden sich erst jetzt der Vorteile bewusst, die neurodivergente Menschen an den Arbeitsplatz bringen können, und der relativ geringen Hilfestellung, die sie benötigen, um den Personalbeschaffungsprozess erfolgreich zu durchlaufen.

Viele scheitern beispielsweise in der Interviewphase, weil sie nur ungern Augenkontakt aufnehmen oder psychometrische oder persönlichkeitsbezogene Tests nicht durchlaufen können.

Während die Daten über die neurodiverselle Bevölkerung spärlich sind, zeichnen die Zahlen zu Autismus und Beschäftigung ein Bild der verbleibenden Vorurteile. Nach Angaben der National Autistic Society des Vereinigten Königreichs sind nur 16% der autistischen Erwachsenen in Vollzeit beschäftigt. In den USA sind 85 % der autistischen Absolventen arbeitslos, verglichen mit der nationalen Arbeitslosenquote von 4,5 %.

Riesige Vorteile

Dass eine so reiche Ader an kreativen Talenten nicht von der Industrie und der Wirtschaft abgeschöpft wird, ist besonders deprimierend, wenn man sich die enormen Vorteile ansieht, die das neurodiverse Denken einem Unternehmen bringen kann.

Jane Griffith, Partnerin und National Diversity Leader bei Odgers Berndtson in Toronto, glaubt, dass neurodiverse Individuen neue Perspektiven eröffnen können.

„Zum Beispiel sind Menschen mit Autismus oft sehr intelligent und in der Lage, Daten zu verarbeiten und Muster zu sehen. Sie haben eine großartige Arbeitsethik und die Fähigkeit, sich zu konzentrieren, wenn Entgegenkommen gezeigt wird", sagt sie.

Probleme auf eine andere Art und Weise lösen

Nicole Radziwill, VP bei Intelex Technologies in Toronto, ist Executive Advisor für C-Suite Leadership und interner Berater für den Rest der Organisation. Sie ist auch autistisch.

"Ich bin der Hüter", sagt sie, "des Informationswertes eines ganzen Wissenszweiges meines Unternehmens. Vertriebsmitarbeiter kommen zu mir, um Hilfe und Ratschläge zu erhalten, wie sie ihre Demos positionieren können, denn ich kann aus Hunderten von verschiedenen Beispielen schöpfen, die in meinem Kopf gespeichert sind. Und wenn ich kein geeignetes Beispiel habe, kann ich die Forschungsliteratur analysieren und ziemlich schnell eine Antwort finden."

Die meisten Programme zur Neurodiversität am Arbeitsplatz konzentrieren sich auf autistische Menschen, aber es gibt keinen Grund, warum sie nicht auch bei Menschen mit Legasthenie, Dyspraxie, ADHS und anderen Neurodivergenzen verwendet werden sollte.

Eine Reihe dieser Programme umfasst STEM-Themen oder Bereiche, in denen die Systematisierung wichtig ist. Für die weicheren Bereiche der Wirtschaft oder kreative Sektoren, wie zum Beispiel Personal oder Marketing, gibt es tendenziell weniger Programme.

Marie O'Riordan ist Senior Public Relations and Communications Manager bei PFS, einem der besten FinTech Firmen Europas. O'Riordan ist eine Inselbegabte, was bedeutet, dass sie mit eidetischem/fotografischem Gedächtnis und auditorischem Erinnerungsvermögen geboren wurde. Sie findet die Welt sehr mathematisch und kann sich auf winzige Details konzentrieren. "Wir (neurodivergenten Menschen) sehen die Welt buchstäblich anders und sind natürlich geborene Problemlöser. Dies kann nur ein Vorteil in einer hochgradig disruptiven Branche wie FinTech sein."

Authentisches Selbst

Roxanne Hobbs von der Hobbs Consultancy ist ein Inklusivitätscoach und arbeitet mit Unternehmen zusammen, um die Bedeutung von Vielfalt und Integration hervorzuheben. Sie ist eine starke Verfechterin von "Menschen, die als ihr authentisches Selbst am Arbeitsplatz auftauchen".

Auch sie glaubt, dass es jetzt an der Zeit ist, die Neurodiversität auf der oberen Ebene in Wirtschaft und Industrie zu erhöhen.

"Die meisten neurodivergenten Menschen haben stachelige Profile", sagt sie, "was bedeutet, dass sie in einigen Bereichen brillant sein können und andere Bereiche haben, mit denen sie kämpfen. Die Einbeziehung der Neurodiversität ist für mich sinnvoll, wenn man an die Intelligenz eines Systems denkt. Wenn du Leute mit stacheligen Profilen hast, dann wird die Intelligenz des Systems insgesamt größer werden. Durch die Einführung der Neurodivergenz funktioniert das System besser für alle." fügt Griffith hinzu: "So sehr wir auch die Notwendigkeit sehen, die weibliche Führung oder die Führung von Menschen mit Hautfarbe zu normalisieren, ich würde sagen, dass es für neurodivergente Menschen dasselbe ist. Die Menschen werden sehen, dass es möglich ist und sagen: "Diese Person hat es getan, also kann ich es auch".

"Wir alle filtern die Dinge durch unsere eigene Erfahrung. Wenn wir Menschen haben, die im Vorstand oder in einer Führungsposition sind und Erfahrung gesammelt haben, werden sie eine bessere Wertschätzung und Kenntnisse über die Art der Anpassungen haben, die funktionieren würden.

"Der Standard-Rekrutierungsprozess ist kolonial aufgebaut, mit Prozessen, die auf fähige, weiße Männer ausgerichtet sind. Jeder der nicht in diese Gruppe passt braucht eine Änderung des Prozesses."

"Wir wissen zum Beispiel, dass sich Männer bewerben, wenn sie 60% der Kriterien erfüllt haben; Frauen werden sich erst bewerben, wenn sie 100% erreicht haben.

"Wenn es neurodivergente Menschen gibt, die sich mit dem Vorstellungsgespräch nicht wohl fühlen, weil es z.B. Blickkontakt beinhaltet, ist es unsere Aufgabe als Personalvermittler, sie mit einem Prozess vertraut zu machen, der in der Lage ist, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Wir müssen die Fähigkeiten der Menschen testen und finden, nicht die Schlaglöcher, die sie versenken werden. Wir wollen, dass sie ihr Bestes zeigen."

Zugang zu neurodivergentem Talent

Ein positives Zeichen des Wandels ist, dass immer mehr Unternehmen den Zugang zu neurodivergenten Talenten suchen und ihre HR-Prozesse dahingehend verändert haben. Unter ihnen sind Hewlett Packard Enterprise (HPE), Microsoft und Ford.

Goldman Sachs, richtet sich speziell an autistische Kandidaten. Das Unternehmen startet ein achtwöchiges bezahltes Praktikumsprogramm für diejenigen, die sich als Neurodivergent zeigen und will damit erreichen, dass 1% seiner Mitarbeiter neurodivergent sind.

Maureen Steltman, Schulleiterin der Fraser Academy in Vancouver, die selbst Legasthenikerin ist, glaubt, dass mit den richtigen Anpassungen alles möglich ist.

"Menschen mit Unterschieden sind nicht gut für ein traditionelles Arbeitsumfeld geeignet, aber sie können dennoch ihren Weg in einem Unternehmen finden und erfolgreich sein, indem sie sich selbst kennen und ihre Bedürfnisse verstehen.

"Wenn Sie es aus der Sicht des Arbeitgebers betrachten, ist die wichtigste Frage: Haben sie die Fähigkeit, über ihre eigenen Bedürfnisse nachzudenken, und haben sie die Fähigkeit, nach den Anpassungen zu fragen, die sie brauchen werden? Wir nennen es Befürwortung."

Dieser Artikel stammt aus der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift OBSERVE von Odgers Berndtson.

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