- Aus Mangel an deutschen Ingenieurinnen und Wissenschaftlerinnen werden Frauen aus dem Ausland bevorzugte Kandidatinnen auf Top-Positionen
- Automobilsektor muss beim Führungs- und Kulturwandel einen Gang höher schalten
Heute startet die Internationale Automobil Ausstellung (IAA) mit zwei Neuerungen: einem neuen Ort und einem neuen Konzept. Die IAA Mobility soll keine klassische Autoshow mehr sein, sondern nach eigenen Angaben eine Plattform für die „digitale und klimaneutrale Mobilität der Zukunft“. Ein neues Konzept hat der Automobilsektor nicht nur technologisch dringend nötig, um nicht von der Konkurrenz aus Fernost und dem Silicon Valley abgehängt zu werden, sondern vor allem auch kulturell. Innovationen beginnen im Kopf und hier muss die Branche mit Vollgas nach Ideengebern suchen. Ob die deutschen Autobauer einen zweiten Elon Musk brauchen, sei dahingestellt. Aber sie brauchen mehr Vielfalt im Denken und Handeln, um zukunftsweisenden Ideen und Prozessen Raum zu geben und den Mobilitätswandel mutiger und konsequenter mitzugestalten.
Deutschlands wichtigste Industrie mit ihren mehr als 800.000 direkten und mehr als 1,3 Millionen über Zulieferfunktionen indirekten Beschäftigten steht mitten in einer Zeitenwende. Der Weg zu einer klimaneutralen Mobilität wird zahlreiche Jobprofile verändern. Laut einer Studie der Boston Consulting Group müssen sich mehr als eine halbe Million Beschäftigte um- oder weiterqualifizieren, allein um die Wende vom Verbrenner zum E-Fahrzeug zu sichern. Dieser Wandel macht auf keiner hierarchischen Ebene halt. Vor allem die Profile im oberen Management bis hinauf auf Vorstandsebene brauchen mutige Köpfe, damit die Branche nicht mittelklassig wird.
Das ist die Chance für mehr Frauen, mehr internationale und soziale Diversität und Inklusion, für eine neue Vielfalt im Denken und Handeln. Die große Frage, die sich auch im Executive Search stellt, ist die Frage, woher die neuen Köpfe kommen sollen? Im europaweiten Vergleich ist der Frauenanteil in den Wissenschaften und im Ingenieurswesen in Deutschland unterdurchschnittlich. Während in Skandinavien die Mehrheit der Wissenschaftlerinnen und Ingenieurinnen weiblich ist, beträgt ihr Anteil in Deutschland ein mageres Drittel. Aus diesem Grund ist damit zu rechnen, dass Unternehmen kurz- und mittelfristig verstärkt um ausländische Kandidatinnen werben werden. Sie zahlen damit im doppelten Sinn auf das Diversitäts-Konto ein: weiblich und international.
Die Mobilitätswende wird aber auch immer mehr branchenfremde Kandidat:innen in Führungspositionen bringen. Zum einen mit Blick auf die Produktion neuer Antriebstechnologien. Hier werden Chemiker:innen oder Materialwissenschaftler:innen gefragt werden ebenso im Bereich autonomes Fahren, wo Profile mit starker Software-Kenntnis entscheidend sind. Da die Unternehmen sich auf der anderen Seite auch ihrer Kundschaft neu zuwenden müssen, kundenzentrierter und digitaler werden, entstehen Chancen im Bereich Usability und User Experience. In der UUX-Branche ist der Frauenanteil gar nicht schlecht. Die Zahlen des Branchenverbands der Usability und User Experience Professionals (GermanUPA) zeigen in den vergangenen Jahren eine annähernd gleiche Verteilung zwischen Männern und Frauen. Beim Chemie-Nachwuchs zeigt sich das bekannte Bild wie in allen Ingenieurs- und Wissenschaftsstudiengängen: Seit Jahren stagniert der Frauenanteil unter den klassischen Chemiker:innen und Wirtschaftschemiker:innen bei rund 37 Prozent. Das geht aus der jährlichen Erhebung der Gesellschaft der Chemiker hervor. In den chemischen Studiengängen zeigt sich, dass es eben nicht so leicht ist, die Frauenquote zu steigern. Trotzdem ist zu differenzieren. Frauen studieren einfach lieber Biochemie oder Lebensmittelchemie (Frauenanteil 60 bzw. 66 Prozent).
Um mehr Vielfalt in die Unternehmen zu bringen, muss im ersten Schritt die Attraktivität des Studiums für Frauen geweckt werden. Im zweiten Schritt braucht es Vorbilder und Netzwerke. Branchenverbände wie der Verband deutscher Ingenieure (VDI) fördern zunehmend einen stärkeren Frauenanteil in den Ingenieursberufen. Die Verbände haben erkannt, dass die Mobilitätswende neue Ideen braucht, die durch eine stärkere Vernetzung – gerade von Frauen aus unterschiedlichen Mobilitätssparten – besser gelingen kann. Weibliche Vorbilder gibt es bereits. Silja Pieh ist eine von ihnen. Mit Systemen für das autonome Fahren befasst sie sich seit mehreren Jahren strategisch im Volkswagen-Konzern, zunächst als CFO einer Audi-Tochter, dann als Strategiechefin bei Volkswagen Nutzfahrzeuge. Im Sommer 2020 übernahm sie die Leitung Unternehmensstrategie bei Audi. Mit ihrem Team hat sie mehr als 600 Zukunftstrends analysiert und daraus Ableitungen für die Ingolstädter Premiummarke getroffen. Silja Pieh hat als Architektin der neuen Strategie „Vorsprung 2030“ CEO Markus Duesmann und den gesamten Vorstand sowie ein 500-köpfiges Team an Mitarbeiter:innen und Führungskräften durch den internen Strategieprozess geführt. Mitte 2021 sorgte vor allem der entschlossene Umstiegsplan des Unternehmens in die Elektromobilität für Schlagzeilen. Audi will neue Modelle ab 2026 ausschließlich mit E-Antrieb auf den Markt bringen. Pieh hat damit eine der wichtigsten Positionen in der Transformation der Automobilbranche inne.
Noch ist die deutsche Automobilbranche insgesamt aber noch eher ein Oldtimer denn ein innovatives Zukunftsmobil, was ihr Führungspersonal anbelangt. Das bestätigt auch der aktuelle Odgers Berndtson DAX-Report, den wir im Juli diesen Jahres veröffentlicht haben. Mit einem Durchschnittsalter von 56 Jahre hat keine andere Branche einen höheren Altersdurchschnitt als die Vorstandsgremien der drei größten deutschen Automobilkonzerne. Auch in der Zulieferindustrie sieht es kaum anders aus. Wer eine vielfältige Führungsriege erwartet wird oftmals enttäuscht. Das Bild von Herren mittleren bis gehobenen Alters, im Anzug und einer klassischen Karriere im eigenen Haus oder zumindest der gleichen Branche ist weitverbreitet. Der Blick auf die zweite Ebene zeigt, dass der Wandel greifbar ist. Doch gerade bei der Suche nach neuen Impulsgebern müssen sowohl OEMs als auch Zulieferer ihren Radius ausweiten. Gleichwohl reichen nicht nur neue Köpfe.
Die Automobilbranche braucht einen konsequenten Kultur- und Führungswandel, um dem Innovationsdruck seitens globaler IT- und Tech-Konzerne standhalten zu können. Daran arbeiten zwar bereits viele Unternehmen und nach anfänglicher Lethargie marschiert der VW Konzern heute intensiv vorne mit. Doch gerade ein Unternehmen wie Volkswagen wird aufgrund seiner Historie möglicherweise einen der längsten Wege gehen. Das heißt aber nicht zwangsläufig, dass sie später am Ziel sind. Viele andere Wettbewerber in der Branche sind den kulturellen Wandel bislang ebenfalls nicht konsequent und mutig genug angegangen. Noch zu selten wird verstanden, dass die Unternehmenskultur als Soft-Faktor eine der Kern-Variablen ist. Nicht nur um attraktiv für neue Mitarbeiter zu sein, sondern auch um sie langfristig zu binden.
Die Mobilitätswende im deutschen Automobilsektor geht nicht ohne eine Kulturwende. Mit dem Anspruch, ein international führender Automobilstandort zu bleiben, steckt sich Deutschland derzeit große Ziele, die nur mit innovativen Köpfen gelingt. Die Weichen für neue Technologien müssen bereits heute mutig, konsequent und mit aller Kraft gestellt werden. Denn eines macht die Konkurrenz aus Fernost deutlich. Es wird nicht noch einmal 100 Jahre dauern, bis chinesische OEMs und Zulieferer in allen Belangen auf Augenhöhe agieren.